Das Gefühl nicht richtig zu sein
Kennen Sie seit frühen Tagen in Ihrem Leben das Gefühl…
…irgendwie anders zu sein als die anderen?
…eher ein Außenseiter zu sein?
…nicht richtig zu sein?
Sind Ihnen folgende Sätze schon häufiger begegnet:
„Sei doch nicht so empfindlich!“
„Jetzt reiß’ dich mal zusammen!“
„Leg dir doch mal ein dickeres Fell zu!“
Und reagieren Sie darauf häufig mit einem Gefühl der Traurigkeit? Fühlen Sie sich durch solche Aussagen verletzt, nicht gesehen oder unverstanden?
Dann mag die Erklärung dafür in einem ganz besonderen Wesenzug zu finden sein, der Hochsensibilität. Benannt wurde dieses Phänomen von der US-Psychologin und Psychotherapeutin Dr. phil. Elaine N. Aron. Ihren wissenschaftlich fundierten Untersuchungen zufolge sind insgesamt rund 20% der Menschen hochsensibel, Frauen wie auch Männer.
Ein wertvoller Charakterzug
Hochsensibilität ist keine Störung oder Krankheit sondern ein angeborenes Charaktermerkmal, das sich biologisch in einer besonders tiefen Reizverarbeitung im Nervensystem begründet. Gegenüber Normalsensiblen, werden bei hochsensiblen Menschen eintreffende Reize tiefer und ausführlicher verarbeitet. Dies hat entsprechend intensivere Gefühle zur Folge, die nicht nur tiefer empfunden werden sondern auch mehr Zeit benötigen bis sie wieder abklingen.
Ein Negativ-Beispiel aus dem Alltag: verhält sich beim Einkaufen eine Verkäuferin unfreundlich, so kann dies im hochsensiblen Menschen ein unbehagliches, schmerzliches Gefühl auslösen, welches noch viele Stunden an diesem Tag anhält.
Andererseits: genießt ein hochsensibler Mensch mit allen Sinnen bei voller Achtsamkeit einen Sonnenuntergang, so kann auch diese Situation in Ihm tiefe und anhaltende Empfindungen freisetzen, nun allerdings angenehme, stärkende Gefühle.
Hochsensible Menschen fühlen sich schneller von Reizen überrollt, brauchen häufiger Pausen und vor allem Zeiten der Stille und Ruhe um sich zu regenerieren. Die stetig steigende Hektik und Geschwindigkeit unserer Welt wird für Hochsensible zur wahren Herausforderung. Sie nehmen den Alltag meist als einen Kräfte zehrenden, erschöpfenden Kampf wahr, ein stetes Ankämpfen gegen die nicht enden wollende Reizflut. Die Erklärung dafür lautet dann oft: „Aber den anderen macht das doch auch nichts aus!“
„Wenn man sich entscheidet, in der Gesellschaft, in der wir nun einmal alle zusammen leben, weiterhin normal mitzuspielen, dann läuft man als Hochsensibler Gefahr, dabei unterzugehen“.
(aus Leben mit Hochsensibilität, Susan Marletta-Hart)
Hochsensibilität im Alltag
Die Ausprägung typischer Merkmale ist bei hochsensiblen Menschen unterschiedlich stark und lässt sich wie folgt skizzieren:
- Sehr detailreiche Wahrnehmung (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen)
- Langes (emotionales) Nachklingen erlebter Situationen
- Stimmungen anderer können Hochsensible stark beeinflussen
- Erhöhte Schmerzempfindlichkeit
- Harmoniebedürfnis
- Hohes Pflichtbewusstsein und Perfektionismus
- Hohe Empathiefähigkeit
- Ausgeprägtes Bauchgefühl (Intuition)
- Wunsch nach „reizfreien“ Zeiten und Rückzug um sich zu regenerieren
- Schnelles „sich verlieben“ bedingt durch tiefere Verarbeitung von Begegnungen
Bürde oder Gabe?
Fragt man einen hochsensiblen Menschen wie er dieses Merkmal bewertet, so gehen die Antworten meist in Richtung Bürde, Belastung, Handikap. Nicht selten kann diese Sichtweise den Nährboden für depressive Krisen bilden, da man als Betroffener das Gefühl hat nicht mithalten zu können oder nicht gut genug zu sein. Wie alle unveränderlichen Dinge des Lebens, haben wir jedoch Entscheidungsfreiheit darüber, wie wir solche Dinge tragen und mit ihnen umgehen wollen.
Ein zentraler Schritt besteht darin, dieses Phänomen als solches aufzuspüren und zu erkennen. Sobald man diesem gefühlten „anders sein“ einen Namen geben, es einordnen kann, stellen sich bereits Entlastung und Erleichterung ein. Eine typische Aussage Betroffener: „Endlich hat „es“ einen Namen. Und nun weiß ich, ich bin nicht falsch oder anders, sondern hochsensibel.“ An genau dieser Stelle kann sich die Bürde in ein Geschenk verwandeln lassen.
Gabe und Geschenk zugleich!
Treffen Sie die Entscheidung, Ihre Hochsensibilität als Gabe anzusehen, so können Sie deren Vorteile verwirklichen und sie als wesentliche Bausteine in Ihrem Leben verankern.
Das Geschenk der Hochsensibilität beinhaltet unter anderem eine detailreiche , sehr fein abgestimmte Wahrnehmung, hohe Sorgfalt, eine stark ausgeprägte Intuition und Kreativität, ein besonderes Einfühlungsvermögen. Die Herausforderung besteht darin, den ganz persönlichen Lebensstil zu finden, der den Bedürfnissen gerecht wird die die Hochsensibilität erfordert. Es geht letztlich um die Gestaltung von Lebensqualität innerhalb des Rahmens, der durch Umwelt und Gesellschaft vorgegeben ist.